Selma

«Wir wissen nie, was morgen sein wird – und diese immerwährende Verantwortung zeitweise mit der Kinderspitex teilen zu können - das tut gut». Worte von Selmas Eltern, die uns mitnehmen und uns Einblick gewähren in einen Alltag, der schon lange keiner mehr ist. In ein Familienleben, das so sehr von Krankheit und immer neuen Komplikationen geprägt ist. Dennoch auch eine Geschichte von einem starken Mädchen, das uns alle lehrt, uns für die Lebensqualität an jedem einzelnen Tag einzusetzen. Und wie die Eltern auch immer wieder betonen, trotz all dem Schweren immer wieder die Lebensfreude in den Vordergrund zu stellen.

Die Eltern erzählen:

Unsere Tochter Selma wurde mit einer seltenen Leberkrankheit geboren. Zwei Wochen nach der Geburt stellte man fest, dass etwas nicht stimmt – bereits mit drei Wochen hatte Selma ihren ersten operativen Eingriff im Kinderleberzentrum in Genf. Schon bald stand fest, dass sie in den ersten beiden Lebensjahren eine Lebertransplantation benötigen wird.

Einige Monate später erhielten wir noch eine zweite Diagnose. Selma hat zudem die seltene genetische Veränderung «Ringchromosom 18». Wir taten uns schwer mit der bevorstehenden Lebertransplantation – die zweite Diagnose stellte uns aber vor neue Fragen. Was, wenn die Transplantation gar nicht helfen wird? Welche Schwierigkeiten bringt das «Ringchromosom 18» mit sich und wie würde sich dies auf die Transplantation auswirken? Mit diesen Fragen fühlten wir uns alleine, denn keiner konnte uns darauf eine Antwort geben. Die Ereignisse überschlugen sich und Selmas Zustand verschlechterte sich zusehends. Schnell war klar, dass Selma dringend diese Lebertransplantation brauchte.

Schon früh unterstützte uns die Kinderspitex in unserem Alltag zuhause, doch diese Aufenthalte waren immer nur kurz. Selma war sehr fragil, hatte immer wieder Infektionen und musste oft schon nach 10 Tagen wieder zurück ins Spital – mal nach Basel, mal nach Genf. Auf der Intensivstation in Genf musste wir lange auf die Transplantation unserer kleinen Tochter warten, ihre gesundheitlichen Probleme wurden immer komplexer. An Selmas ersten Geburtstag war es dann endlich soweit – ein geeignetes Spenderorgan war da! Wir waren voller Zuversicht, dass nun endlich alles gut kommen wird. Doch eigentlich fingen da die Herausforderungen erst richtig an. Die Transplantation selber verlief ausgesprochen gut, die Zeit danach war holprig und geprägt von Schwierigkeiten. Mit viel Liebe, positiven Gedanken und Zuwendung versuchten wir Selma so gut wie möglich beizustehen. Auf der Intensivstation versuchten wir viel von der Pflege selber zu übernehmen und hielten uns an kleinen Zielen fest – so sollte Selma zum Beispiel täglich an die frische Luft kommen. Es ging stetig bergauf, aber Selma erholte sich nicht wie erhofft vom Eingriff. Sie benötigte ein Beatmungsgerät während dem Schlafen – warum war nicht klar. Auch ihre Entwicklung verlief weiterhin schleppend und das Essen war nach wie vor ein schwieriges Thema.

Dann war es endlich soweit: Selma durfte nach Hause. Dabei unterstützte uns wieder die Kinderspitex, die Selma nun ein halbes Jahr nicht gesehen hatte. Zuerst wollten wir keine Nachtwachen und Selma zu uns ins Schlafzimmer nehmen. Doch schnell war klar, dass wir das nicht schaffen. Das Beatmungsgerät war geräuschvoll und unregelmässig, wodurch wir immer wieder aufwachten. Wegen der medikamentenbedingten Durchfälle musste Selma zudem auch nachts mehrmals gewickelt werden. Nach den Strapazen der vergangenen Monate hatten wir keine Energie-Reserven mehr, um nachts mehrmals aufzustehen. Es war nicht leicht, sich einzugestehen, dass es alleine nicht machbar ist. Schlussendlich war es das Team der Kinderspitex, welches uns in dieser Situation abholte und alles so arrangierte, dass es für alle gut funktionierte.

Wir waren gerade mal eine Woche zuhause und gewöhnten uns langsam an unseren neuen Alltag, da ging es Selma plötzlich schlechter. Schweren Herzens brachten wir Selma wieder ins Spital nach Basel. Es war nicht klar, was los war und ihr ging es täglich schlechter. Selma musste zurück nach Genf ins Transplantationszentrum. Dies traf uns schwer. Nach all den Monaten der Entbehrung war unser Wunsch gross, als Familie endlich wieder zusammen zuhause zu sein. Selma hat schliesslich noch einen dreijährigen Bruder, der ebenfalls unsere Aufmerksamkeit und Zuneigung braucht. Es war schwierig, ihn wieder abgeben zu müssen – glücklicherweise halfen uns Freunde und Familie wo es nur ging.

Wieder mussten wir um Selmas Leben kämpfen. Sie war unter hoher Immunsuppression an mehreren Viren gleichzeitig erkrankt und ihr Körper schaffte es nicht, gegen all die Viren anzukämpfen. Zwei Monate später – mit Nierenproblemen, beginnenden Herzproblemen, neuen Fragezeichen und zusätzlichen Sorgen – waren wir wieder zurück zuhause. Selma musste weiterhin mit Virostatika i.v. behandelt werden, was ihr die Kinderspitex einmal täglich bei uns zuhause verabreichen konnte. Dies ermöglichte uns, früher nach Hause gehen zu können und nicht das Ende der Therapie im Spital abwarten zu müssen.

Es folgte endlich eine ruhigere Phase, in der wir als Familie zuhause ankommen konnten. So spielte sich auch unser Alltag mit der Kinderspitex ein und wir gewöhnten uns allmählich daran, vor dem zu Bett gehen und beim Aufstehen fremde Menschen in unserer Wohnung anzutreffen. Uns wurde immer bewusster, dass wir es ohne Kinderspitex gar nicht schaffen würden mit Selma zuhause zu sein.

Ende September wollten wir endlich mal eine Woche Ferien machen. Die Kinderspitex unterstützte uns bei den Vorbereitungen, dass wir eine Woche ohne Pflege auskommen würden. Doch das Schicksal machte uns einen Strich durch die Rechnung – Selmas Broviac-Katheter ging kaputt. Auf dem Weg in die Ferien machten wir deshalb einen Halt in Genf. Die Ereignisse überschlugen sich, Selma kämpfte erneut ums Überleben.

Zurück im Spital in Basel entschieden wir uns, Palliative Care in Anspruch zu nehmen. Nicht nur, weil Selma schon so oft hätte gehen können, sondern vor allem auch, dass wir mit unseren Wünschen und Bedürfnissen wahrgenommen werden. Ein guter Entscheid, denn nach Monaten von hin und her zwischen Genf und Basel war es wichtig für uns, wieder mehr zuhause zu sein. Dies ist nur möglich, wenn die Ärzte in Basel mehr Verantwortung für Selma übernehmen können – auch wenn sie eine Patientin des Leberzentrums in Genf bleibt. Ausserdem beschäftigte man sich neben all den akuten Problemen zu wenig mit dem «Ringchromosom 18», was uns beunruhigte. Danke der Unterstützung von Frau Brogli von der Kinderspitex kam ein runder Tisch mit den behandelnden Ärzten zustande, an dem wir unsere Anliegen und Fragen platzieren konnten und ernst genommen wurden. Die Rückendeckung der Kinderspitex war dabei unglaublich hilfreich. Alleine hätten wir ein solch schwieriges Gespräch wohl kaum geschafft.

Momentan kommt endlich wieder etwas Ruhe in unser Leben. Doch wir wissen nie, was morgen sein wird. Wir leben im Moment, geniessen jeden Tag mit unseren lebensfrohen Kindern und versuchen, uns nicht zu viele Sorgen über morgen zu machen.

Die Verantwortung für ein krankes Kind selber zu tragen bleibt jedoch eine Herausforderung. Wie gut, dass wir sie zumindest zeitweise mit der Kinderspitex teilen können.

Auch für uns als Kinderspitex begegnen wir bei der Pflege von Selma immer wieder neuen Herausforderungen. Sei dies im medizinisch-pflegerischen Kontext – in der Tatsache, dass die Planung sehr flexibel sein muss oder auch in der Tatsache, dass wir uns in dieser Pflege auf Begegnungen und Beziehung einlassen - die uns nicht nur als Fachpersonen, sondern auch als Menschen prägen.

 

Kinderspitex:

Seit bald zwei Jahren pflegen wir Selma und begleiten die Familie auf ihrem Weg. Einerseits entwickelt sie sich körperlich, geistig und seelisch nicht der Norm entsprechend und die Entwicklungsschritte sind nicht wie die eines gesunden Kindes. Ihre Situation ist unvorhersehbar und im Alltag ist nur wenig Struktur möglich. Andererseits erfährt die Familie in allen Elementen – also sowohl physisch, psychisch, sozial und spirituell – eine Beeinträchtigung. Physisch, psychisch und sozial sind sie in den ganz normalen Lebensaktivitäten erkennbar – kein Spielplatzbesuch, Geburtstagsfeier, Spielgruppe sowie keinen normalen Tagesablauf. Freunde treffen und soziale Kontakte pflegen sind aus zeitlichen Ressourcen und der krankheitsbedingten Situation schwierig. Die Angst davor, was morgen ist – wie es Selma geht, die Ungewissheit, ob ihr Zustand stabil bleibt oder wieder ein Spitaleintritt nötig wird – zehrt an den Kräften. Spirituell gesehen ist die Familie immer wieder gefordert mit der wiederkehrenden Konfrontation mit dem möglichen Verlust ihrer Tochter und dem Annehmen der Krankheit. Vertrauen in die Schulmedizin zu haben und dennoch nicht die Grenzen des Möglichen aus den Augen zu verlieren. Immer wieder auf der Suche nach dem richtigen Weg und in der Auseinandersetzung mit der Frage, wie weit die Selbstbestimmung geht und wo es keine Alternativen gibt. Dies immer im Bewusstsein, dass sie für ihre Tochter entscheiden und nicht für sich selbst.

Wenn wir von Selma sprechen, dann machen wir eine Verbindung zum Begriff Komplexität. Doch was bedeutet es eigentlich, wenn wir sagen, eine Situation ist komplex?

Ahlemeyer et al. definieren Komplexität folgendermassen: Ein System ist umso komplexer, je mehr Elemente es aufweist, je grösser die Zahl der Beziehungen zwischen diesen Elementen ist, je verschiedenartiger die Beziehungen sind und je ungewisser es ist, wie sich die Zahl der Elemente und die Zahl der Beziehungen im Zeitablauf verändern (Ahlemeyer & Königwieser, 1997).

Es ist wichtig sich dessen bewusst zu sein, um die Situation der kleinen Selma und ihrer Familie zumindest ansatzweise zu verstehen und um nachvollziehen zu können, in welcher Herausforderung sich die Familie, wie aber auch das ganze interdisziplinäre Team sich befindet.

Die Komplexität der Situation der Familie zeigt sich insbesondere dadurch, wie interdisziplinär sich das professionelle Setting von Selma gestaltet. Selma wird an drei unterschiedlichen Spitalstandorten betreut. Weiter zeigt es sich durch die wiederkehrenden Klinikaufenthalte und notfallmässigen Klinikeintritte, die regelmässigen ambulanten Kontrollen, die Betreuung des Bruders, die Sorge um ihre Tochter, die Übernahme der 24-Stunden Pflege und Überwachung zuhause durch die Eltern, wenn die Kinderspitex nicht vor Ort ist. Der Schlafmangel und die Angst, welche jeden Tag allgegenwärtig sind, das komplexe und unvorhersehbare Krankheitsbild und die stetige Steigerung des Pflegebedarfs machen deutlich, dass hier der Bedarf zur Pflege von Selma durch die Kinderspitex gegeben ist. Das Ziel ist eine familienzentrierte Pflege. Die Eltern sind Fachpersonen in der Betreuung und Pflege ihrer Tochter und möchten ernst genommen, gehört und miteinbezogen werden – sowohl in die Pflege als auch bei den Entscheidungen im interdisziplinären Austausch mit den Kliniken. Wenn Kinder eine intensive Pflege benötigen und die Eltern die Pflege zuhause voll übernehmen können, haben eine gute und regelmässige Kommunikation und ein Informationsaustausch oberste Priorität. Nur so können die Eltern mit den Pflegenden und den Ärzten eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen und somit ab und zu loslassen. Eine wichtige Voraussetzung, um das Kind im Spital oder auch zuhause gut gepflegt zu wissen.

Selma ist ein fröhliches und aufgewecktes Mädchen und hat Freude am täglichen Entdecken ihrer Umwelt. Sie ist geduldig, lernt uns Gelassenheit und zeigt uns, dass man sich an kleinen Dingen erfreuen kann. Eine kleine – grosse – Kämpferin mit einem beeindruckenden Lebenswillen. In diesem Sinne bedeutet Palliative Care Selma und ihre ganze Familie auch in dieser ganzheitlichen und umhüllenden Qualität von Palliare – ummanteln - zu begleiten. Völlig unabhängig davon, wie Selma ihren höchst individuellen Weg gehen wird.

 

// Text: Eltern von Selma und Katja Brogli, Pflegefachfrau HF

// Im Bild: Selma mit Pflegefachfrau Katja Brogli