Oemer und Elif – Der Weg in den Kindergarten

Für manche Kinder ist es der langersehnte Moment, wenn endlich der erste Kindergartentag kommt, für andere ist dieser Tag mit Unsicherheit verbunden. Was der Eintritt in den Kindergarten für eine Familie mit Kindern, die besondere Bedürfnisse brauchen, bedeutet, lesen Sie in unserem «Tagebuch» über die Zwillinge Elif und Oemer.

Folgende Herausforderungen sind zu meistern, damit die Kinder integrativ den normalen Kindergarten besuchen können. Die Fall- und Personalverantwortliche (FPV) Nicole Valentin und die Pflege-Mitarbeiterin Nicole Jenny erzählen:

03.06.22:
Der Kindsvater meldet sich bei der Kinderspitex auf der zentralen Nummer. Er meldet seine Zwillinge zum täglichen Katheterisieren im Kindergarten ab August 2022 an. Bereits nach ihrer Geburt haben wir die Zwillinge zu Hause kurzzeitig betreut und waren später noch einmalig bei Elif für eine Antibiotikatherapie intravenös im Einsatz. Beide Kinder sind körperlich beeinträchtigt und können nicht laufen. Sie sind auf den Rollstuhl angewiesen.

07.06.22:
Ich rufe den Vater an, um genauere Informationen zu erhalten. Er erklärt mir, dass ich in der TSM Münchenstein (Therapie Schulzentrum) anrufen darf, dort laufe die Koordination zur Planung des Kindergarten-Eintritts seiner Kinder. Es sei noch unklar, in welchen Kindergarten sie kommen werden.

Ein nächstes Telefonat folgt mit dem TSM Münchenstein. Wir werden informiert, dass die Kinder ursprünglich bei ihnen in der TSM für den Kindergarten angemeldet gewesen seien. Wir erfahren weiter, dass die Klasse, in welche die Kinder eintreten würden, aus sehr stark eingeschränkten Kindern bestünde, welche auch kognitiv nicht in der Lage wären, sich mit Elif und Oemer zu unterhalten. Aus diesem Grund scheine es sinnvoller, nach einer Lösung zu suchen, bei der die Zwillinge in einem Regelkindergarten integriert werden könnten. Diese Suche laufe nun auf Hochtouren und stelle eine grosse Herausforderung dar, da es sich um zwei Kinder mit speziellen Bedürfnissen handelt, welche nicht einfach so im Juni noch einer Klasse angegliedert werden können. Diese Koordination laufe neu über die Schulleitung in Allschwil, in der Wohngemeinde von Elif und Oemer. Ich kann mich dort melden, um Näheres zu erfahren.

13.06.22:
Erster Besuch von mir als Fall- und Personalverantwortliche zu Hause bei den Kindern. Ebenfalls anwesend sind die Mutter und eine Tante. Sie zeigen mir, wie sie Elif und Oemer katheterisieren und welches Material sie dazu brauchen. Während die Mutter sehr offen und engagiert ist, sind die beiden Kinder eher noch misstrauisch und zurückhaltend und sind froh, dass ich erst mal nur zu schaue.

Wir vereinbaren einen weiteren Termin und besprechen mit Elif und Oemer, dass ich dann noch ein oder zwei Mitarbeiterinnen mitbringen werde, damit sie sich kennenlernen. Wenn die Kinder es zulassen, wird dann eine Mitarbeiterin von uns das Katheterisieren übernehmen.

Zuvor sind aber noch die langen Sommerferien und die Familie fährt in den Urlaub ans Meer.

20.06.22:
Erstes Telefonat mit der Schule Allschwil. Dort sind verschiedene Möglichkeiten in Abklärung, es ist aber noch nicht fix, in welchen Kindergarten die Kinder eintreten werden.

Gleichzeitige Information an das Team und Erstellen eines Einsatzplanes zur Einführung der Mitarbeiterinnen vor dem ersten Kindergarten-Tag.

Ende Juni 2022:
Die Zusage kommt von der Schulleitung Allschwil, dass sie einen Platz für die Kinder gefunden haben. Sie können in der Gemeinde in einen Doppelkindergarten eintreten, wo jedes der Zwillinge in einer eigenen Klasse ist.

Erste Kontaktaufnahme mit den Kindergärtnerinnen zur Besprechung des Vorgehens und zum Planen eines Termins vor Ort.

27.07.22:
Weitere Einführungen der Mitarbeiterinnen vor Ort zu Hause. Es wird schnell klar, dass die Herausforderung nicht das Katheterisieren sein wird. Dies klappt problemlos. Der Transfer der Kinder vom Rollstuhl auf den Boden und umgekehrt, muss noch optimiert werden. Wir werden sie nicht, wie es bis jetzt gehandhabt wurde, vom Rollstuhl auf den Boden «lüpfen», sondern versuchen, einen anderen rückenschonenderen Ablauf zu gestalten. Die beiden Kinder scheinen Mühe zu haben, sich von ihrer Mutter zu lösen, sind nach wie vor sehr zurückhaltend gegenüber uns und müssen teilweise auch weinen, weil wir anstelle der Mutter die Kinder katheterisieren.

02.08.22:
Mitten in den Vorbereitungen im Kindergarten starten wir bereits unsere ersten Einsätze zu Hause. Dort findet das erste Kennenlernen der Pflegefachfrauen aus unserem Team und der Familie statt. Gleichzeitig werden wir von den Eltern instruiert, wie das Katheterisieren ablaufen soll.

Bei meinem ersten Einsatz treffe ich auf eine freudige Mama und zwei sehr skeptische Kinder. Ich kenne die Familie von unseren Einsätzen, als Elif und Oemer als Babys aus dem Spital nach Hause kamen. Damals zeigten wir der Mama wie das Katheterisieren funktioniert, heute machen wir dies anders herum.

Die Pflegeverrichtung ist einfach, das Annähern an die Kinder noch sehr fragil.

10.08.22:
Erster Besuch im Kindergarten zusammen mit beiden Kindergärtnerinnen, den Eltern, beiden Kindern und wir von der Kinderspitex. Gegebenheiten vor Ort können gemeinsam angeschaut werden und der Ablauf wird besprochen. Nun ist auch klar, dass jedes der Kinder eine eigene Assistentin erhalten wird, welche beim Transfer zum Katheterisieren beigezogen werden kann.

11.08.22:
Rundtischgespräch mit allen Beteiligten im Kindergarten, Schulleitung, Assistentinnen, Kindergärtnerinnen, Physiotherapeutin und weitere Therapeutinnen. Besprochen werden die zeitlichen Aufteilungen, Materialbeschaffung, Planung von Ausflügen, Einführung der Assistentinnen, Integration der Physio etc.

15.8.22:
Etwas angespannt gehe ich zu meinem Ersteinsatz in den Kindergarten. Wird alles klappen? Ist alles Material vor Ort? Finde ich mich zurecht in den neuen Räumlichkeiten? Wie läuft der Transfer ab? Werden die Kinder mitmachen? Ich lese mich ein, wo was wie ablaufen soll und klingle an der Tür.

Elif und Oemer kommen hintereinander mit jeweils einer Assistentin in den Materialraum, wo wir auf einer Matte am Boden unsere Pflege durchführen werden. Sie sind sehr scheu und verstecken sich hinter ihren Händen. Die beiden Kinder haben bereits eine gute Beziehung zu ihren motivierten Assistentinnen aufgebaut und ich merke, dass ihnen ihre Anwesenheit Sicherheit gibt. Ich beginne nun, zusammen mit der jeweiligen Assistentin einen möglichst sinnvollen Ablauf zu gestalten. Das Katheterisieren klappt bestens, der Transfer aus dem Rollstuhl und zurück überhaupt nicht. Ich versuche, mit den beiden Kindern in Kontakt zu kommen und ihnen eine vertraute Basis

20.8.22:
Nach den ersten Einsätzen wird klar, dass das Katheterisieren nicht unser Hauptthema sein wird, sondern der Transfer der Kinder vom Rollstuhl auf den Boden und zurück in den Rollstuhl. Ebenso muss ein Blickschutz ans Aussenfenster angebracht werden, da die anderen Kindergartenkinder natürlich sehr neugierig sind, was da im Raum vor sich geht.

Es bedarf einiger Telefonate untereinander, um das weitere Vorgehen zu planen. BV (Bezugsverantwortliche) und FPV nehmen mit Mitarbeiterinnen aus der Kinderspitex mit Kinästhetikerfahrung Kontakt auf, um sich noch Tipps zu holen, ebenso mit der langjährigen Physiotherapeutin der Zwillinge. Es folgen wiederum Besuche bei der Familie zu Hause mit der Physiotherapeutin, um zu lernen, wie ein rückenschonender Transfer unsererseits und ein angstfreier und physiologischer Transfer für die Kinder durchzuführen ist.

Dies gilt es nun auch mit den Kindergärtnerinnen zu besprechen und den eingeübten Ablauf in den Kindergartenalltag zu integrieren.

September 2022:
Es gelingt uns, eine fundierte Beziehung zu Elif und Oemer aufzubauen, ihnen einen strukturierten Einsatz zu bieten und mit den Assistentinnen gemeinsam einen besseren Transfer zu üben.

Dezember 2022:
Die erste Fallbesprechung findet statt. Diese ist sehr wichtig für den Austausch im Team und mit der zuständigen FPV. Wir evaluieren unsere Pflege sowie die Transfers und besprechen das weitere Vorgehen, damit wir gemeinsam mit den Kindern und den Assistentinnen die nächsten Schritte in Angriff nehmen können und so unsere Pflege noch verbessern können. Seitens BV findet wiederum ein Informationsaustausch mit allen Beteiligten statt.

In der Zwischenzeit sind Elif und Oemer bestens im Kindergarten integriert und scheinen sich dort sehr wohl zu fühlen. Auch wir von der Kinderspitex haben einen eingeübten Ablauf und leisten sehr gerne diese Einsätze. Es ist eine schöne Erfahrung, zu erleben, wie Elif und Oemer mit sehr liebevoller und engagierter Unterstützung ihrer Eltern den Weg in den Regelkindergarten gemeistert haben. Auch die gute Zusammenarbeit mit den motivierten Kindergärtnerinnen und Assistentinnen so wie der erfahrenen Physiotherapeutin war für uns sehr wertvoll.

Wir freuen uns, die beiden weiterhin ein Stück weit auf ihrem Weg zu begleiten.

// Text: Nicole Valentin und Nicole Jenny
// Im Bild: Elif mit Nicole Jenny