Michelle und Alec

Was geschieht, wenn in einer Familie zwei Kinder mit einer psychiatrischen Diagnose erkranken? Und wie wirkt sich dies auf den Alltag dieser Familie aus? Die Mutter und die EinsatzleiterinFachgebiet pädiatrisch psychiatrische Pflege erzählen uns davon und erklären auch, wie die ganze Corona-Pandemie die Situation weiter verschärft hat.

Die Mutter erzählt:

Seit einem halben Jahr werden unsere zwei jüngeren Kinder – Michelle, 17 Jahre und Alec, 13 Jahre - von der pädiatrisch psychiatrischen Kinderspitex Nordwestschweiz begleitet. Beide aus unterschiedlichen Gründen.

In unserer Familie gibt es noch unsere älteste Tochter Nina, die vor sechs Wochen ausgezogen ist, unsere junge Hündin Nagisa, unsere Katze Cleo und vier Hasen.

Mein Mann arbeitet im gleichen Dorf und kann im Homeoffice arbeiten sowie seine Arbeitszeit flexibel gestalten. Ich habe vor zwei Jahren aufgehört extern zu arbeiten, damit wir die Möglichkeit hatten, Michelle zu Hause zu betreuen.

Bei Michelle wurde schon früh eine autistische Diagnose gestellt. Im Kindergarten und in der Primarschulzeit fiel ihre sehr ruhige und stille Art auf. Eine gute Freundin half ihr durch die gesamte Primarschule. In der Sekundarschule war sie überfordert. Viele Räume, keine klare Garderobe, keine für sie lesbare Struktur und vor allem keine Freundin mehr, die ihr half - dafür sehr viele Lehrpersonen.

Das war der Beginn einer langen, schwierigen Zeit mit einer schweren Depression und selbstverletzendem Verhalten. Mit 13 Jahren kam Michelle in die Psychiatrische Klinik, wo sie über 15 Monate verbrachte. Später versuchten wir es in einer sonderpädagogischen Einrichtung, in der Michelle unter der Woche wohnte. Doch sie konnte sich nie ganz auf diese Einrichtung einlassen und fing wieder an, sich zu verletzen. Es folgten erneute Aufenthalte in verschiedenen Spitälern.

Seit über einem Jahr lebt Michelle nun wieder zu Hause mit einer sehr niederschwelligen Tagesstruktur. Die ersten Monate ging es ausschliesslich darum, dass Michelle sich erholen konnte. Danach begannen wir zweimal wöchentlich kleine Sequenzen mit neuen Personen einzuführen. Michelles Wochenplan sieht wie folgt aus; am Montag und Donnerstag kommt jemand von der Kinderspitex, mittwochs geht sie in die Ergotherapie und alle zwei bis drei Wochen geht sie zu ihrer Psychiaterin. Sie braucht sehr viel Zeit für die Erholung und hört Musik. Mit der Kinderspitex trainiert sie gezielt verschiedene Alltagssituationen. Es geht darum, wie sie mit der Anspannung oder auch mit ganz alltäglichen Situationen so umgehen kann, dass sie nicht überfordert ist und zu selbstverletzenden Strategien greift. Michelles Ziel ist es, später in einer betreuten Wohnform ihren Platz zu finden.

All dies hat sich auch stark auf das Leben von ihrem Bruder Alec ausgewirkt.

Alec war neun Jahre alt, als Michelle zum ersten Mal in die Klinik musste. Das war sehr schwer für ihn. Er verstand nicht genau, weshalb sie wegmusste. Natürlich durfte er sie in der Klinik besuchen, aber dort fühlte er sich fremd und Michelle war zudem sehr krank und sehr verschlossen. Wir hatten wenig Zeit für Alec. Und genauso wenig für unsere älteste Tochter Nina, unsere Freunde und Verwandte. Dies führte dazu, dass Alec, der bis anhin seine Cousins jede Woche sah, diese kaum noch treffen konnte. Was blieb waren die Freunde aus der Schule.

In dieser Zeit fehlte er häufig in der Schule wegen Bauchschmerzen. Mit seinen Freunden traf er sich immer weniger, und wenn, dann mussten sie zu ihm kommen. Mit dem Übertritt in die Oberstufe verschlechterte sich die Situation nochmals. Alec hatte immer mehr Mühe das Haus zu verlassen. Zu dieser Zeit wechselt er auch sein Äusseres zu seiner neuen Geschlechtsidentität. Verschiedene Abklärungen im KJPD zeigten eine Angststörung, eine Genderthematik und ein zunehmender Schulabsentismus. Er ging zweimal pro Woche in die Therapie und wir planten, die Kinderspitex einzuschalten. Dies mit dem Ziel, dass Alec wieder in die Schule gehen kann.

Doch dann kam die Coronazeit - plötzlich ging nichts mehr. Niemand konnte mehr abmachen, die Schule wurde online durchgeführt, Kinos etc. mussten schliessen. Somit verzögerte sich auch der Start der Kinderspitex und wir mussten alle zuwarten. Als die Corona-Massnahmen wieder gelockert wurden, war Alec gar nicht mehr in der Lage, das Haus zu verlassen.

Die Spitex baute in einem ersten Schritt Vertrauen auf, in einem zweiten Schritt gingen sie mit ihm nach draussen. Das klappt schon gut. Der nächste Schritt wird dann der Weg zurück zu seiner Psychologin sein und der letzte Schritt zurück in die Schule. Mitbegleitet wird das von seiner Psychiaterin. Alecs Ziele sind die Überwindung seiner Angststörung, eine körperliche Angleichung an seine Identität - später eine Lehre zu absolvieren und sein Leben wieder selbständig zu führen.

 

Kinderspitex:

Ich lernte Familie Schneider im Frühling kennen. Ihre Familiengeschichte ist sehr komplex und zeigt auf, wie sehr sowohl innerfamiliäre Aspekte als auch Bedingungen von aussen - wie Corona - das ganze Gleichgewicht und die Gesundheit beeinflussen können. Die Familie musste schon viel Schwieriges erleben und trotzdem haben sie ihren Mut nicht verloren. Es hat mich tief beeindruckt, wie sich die Eltern - vor allem die Mutter - mit unermüdlichen Einsatz um ihre Kinder kümmern. Es gibt immer wieder Rückschläge, zunehmend aber auch Fortschritte.

Wir von der Kinderspitex kommen zweimal in der Woche zu Michelle und Alec, um mit ihnen lebenspraktische Dinge zu trainieren, das Überwinden der Ängste anzugehen und Gespräche zu führen. Was alltäglich tönt wird unter den gegebenen Voraussetzungen zu einem professionellen Begleiten durch unsere Fachpersonen. Dabei arbeiten wir eng mit der Mutter und auch den zuständigen Stellen zusammen.

Die beiden Geschwister sind in ihrer Thematik ähnlich und doch unterschiedlich. In der professionellen Begleitung ist es zentral, die beiden individuell und gezielt zu begleiten und zu unterstützen sowie dabei auch das Familiensystem zu berücksichtigen und miteinzubeziehen.

Das Trainieren von Alltagsstrukturen mit Michelle ist ein wesentliches Element der gemeinsamen Zielvereinbarung. Wir trainieren das Rausgehen, eine Fahrt mit dem Bus etc. An einer befahrenen Strasse entlang zu gehen ist für Michelle eine grosse Herausforderung. Sie ist motiviert mit zu machen, es ist aber sehr tagesformabhängig, wie der Einsatz schlussendlich verläuft. Es gibt auch immer wieder Krisen, in denen sich Michelle in ihr Zimmer zurückzieht und dann teilweise auch selbstverletzende Gedanken hat. Oder ihr schlicht der Antrieb fehlt. Michelle hat gelernt damit umzugehen, braucht dafür aber sehr viel Energie.

Neuerdings hat die Familie eine junge Labradorhündin, die viel Leben in die Familie bringt. Michelle kümmert sich gerne um sie, gleichzeitig ist es aber auch oft zu viel. Michelle ist schnell reizüberflutet aufgrund ihrer Diagnosen. Wir unterstützen sie in ihren täglichen Herausforderungen, indem wir Strategien erarbeiten und einüben, um Krisen zu bewältigen. Wichtig für eine ganzheitliche und möglichst erfolgreiche Begleitung ist dabei die Zusammenarbeit mit ihrer Therapeutin und der Eltern.

Auch Alec wird zweimal wöchentlich von uns begleitet. Anfangs hat ihn das so gestresst, dass er sich nur auf 10 Minuten in seinem Zimmer - manchmal versteckt - einlassen konnte. Er wird von starken Ängsten geplagt, geht nicht mehr zu Schule und ist meist in seinem Zimmer anzutreffen. Alec möchte seine Ängste loswerden und auch wieder zur Schule gehen, schafft das aber momentan nicht. Es liegt rasch eine Überlastung und Erschöpfung vor. Wir brauchen oft das richtige Mass und Fingerspitzengefühl, um ihn nicht zu überfordern, aber trotzdem zu fordern. Es dauerte lange, bis wir eine Vertrauensbasis aufbauen konnten. In der Zwischenzeit können wir halbstündige Einsätze durchführen und mit ihm das «aus dem Haus gehen» trainieren. Er ist nach wie vor gestresst, wenn wir kommen, kann aber besser damit umgehen. Auch hier ist es wichtig, dass wir mit allen involvierten Stellen zusammenarbeiten.

Aus dem familiensystemischen Ansatz heraus ist es zentral, dass die Familie von Alec und Michelle in diesen Aufgaben professionell begleitet wird. Dafür braucht es in dieser Situation unabdingbar eine aufsuchende Kinder-Psychiatrische Begleitung. Dies auch, um die Familie professionell zu unterstützen und die beiden jungen Menschen dazu zu befähigen, mit ihren Schwierigkeiten umzugehen.

Es ist eine Arbeit, die Ausdauer und Zuversicht erfordert, die aber auch aufzeigt, wie viel erreicht werden kann und wie wichtig es ist, dadurch weitere Klinikaufenthalte zu vermeiden. Und wie bereichernd es auch ist, wenn junge Menschen wieder befähigt und an ihre eigenen Ressourcen herangeführt werden können.

Wir danken der Familie sehr für diesen Einblick, denn es ist nach wie vor für viele Menschen nicht nachvollziehbar, was sich hinter diesen Geschichten verbirgt und wie wichtig eine professionelle Pflege auch hier ist. Herzlichen Dank.

 

// Text: Mutter von Michelle und Alec und Chantal Tsolakis, Einsatzleiterin Fachgebiet  pädiatrisch psychiatrische Pflege

// Im Bild: Michelle und Alec mit Einsatzleiterin Chantal Tsolakis