Maria

Aufgrund ihrer Erkrankung ist Maria für ihre eigene Sicherheit auf eine dauernde Überwachung und eine komplexe Diät-Therapie angewiesen...

Maria öffnet mir die Tür mit einem strahlenden Lachen. In der Hand hält sie eine gelbe Faltbroschüre. Sie erzählt mir auch gleich, was es damit auf sich hat. Die Kinderspitex feiert dieses Jahr ihr 20-jähriges  Jubiläum und lädt deshalb in den Zirkus Harlekin ein. Maria möchte bis ins Detail erfahren, ob sie dann alle Aufführungen der Artisten anschauen, ihr Gesicht als Prinzessin schminken, Kamel und Pony reiten, Fische angeln oder am Glücksrad drehen darf. Auch wer von ihren Pflegenden vor Ort sein wird, möchte sie  wissen. Maria steckt mich mit ihrer Vorfreude an und zusammen malen wir uns aus, wie dieser Tag sein wird und was wir dort alles erleben werden. Auf ihre Frage, wie oft sie noch schlafen muss bis zu diesem tollen Fest, erstellen wir ein Blatt mit allen Daten. Nun kann sie die Tage abhaken und ihre Vorfreude weiterhin geniessen.

Wenn ich an meine erste Zeit bei Maria zurück denke, erscheint es mir fast als Wunder, sie nun so zu erleben. Ihre Zufriedenheit zeugt davon, dass sie trotz Krankheit eine hohe Lebensqualität hat.

Als Maria zweieinhalb Jahre alt war, durfte ich sie und ihre Familie kennenlernen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen und noch immer gab es keine Diagnose. Sicher war nur, dass sie an einer Epilepsie litt.

Mit drei Monaten begannen die ersten Episoden. Auffallend waren dabei die raschen und unkontrollierbaren Augenbewegungen. Heute weiss man, dass dies bei Marias Erkrankung zu den ersten Anzeichen gehört. Die Ärzte waren ratlos. Keiner hatte eine derartige Symptomatik je gesehen. Mit Medikamenten probierte man den Epilepsieanfällen, welche an Intensität und Anzahl im Verlauf der Jahre stark zunahmen, Herr zu werden. Es wurde jedoch keine Verbesserung erreicht. Mit drei Jahren war Marias Allgemeinzustand so schlecht, dass sie keine Sekunde mehr ohne Aufsicht sein konnte. Die Anfälle hinderten sie daran, sich altersgerecht zu entwickeln. An Gehen oder freies Sitzen war nicht zu denken. Tagsüber trug sie einen Helm, um sich bei den willkürlich auftretenden Anfällen zu schützen.

Unsere Einsätze bei Maria verlangten in dieser Zeit höchste Aufmerksamkeit und eine ausgeprägte Reaktionsbereitschaft, um Maria bei den myoklonischen Sturzanfällen zu sichern und ihr bei den grossen Anfällen das Notfallmedikament zu verabreichen. Die Mutter war sehr dankbar für unsere Unterstützung und versichert uns noch heute, dass sie diese schwierige Zeit ohne die Hilfe der Kinderspitex nicht geschafft hätte.

Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem alle Medikamente und Möglichkeiten ausgeschöpft waren und sich keine Besserung abzeichnete. Mittlerweile war an Schlaf oder einen geregelten Tagesablauf nicht mehr zu denken. Durch Zufall und über eigene Recherchen stiess die Mutter auf die ketogene Diät (*s. Erklärung am Ende des Textes). Mit einer Buchautorin, welche sich intensiv mit der ketogenen Diät auseinander gesetzt hatte, kam es zu einem wertvollen, persönlichen Kontakt und Austausch. Der Spielfilm «So lange es noch Hoffnung gibt» (eine wahre Geschichte über einen epileptischen Jungen, der mit Hilfe der ketogenen Diät wieder gesund wurde) bestärkte die Mutter darin, diesen noch unbekannten Weg mit Maria zu gehen. Wie die Mutter im Film gab auch sie die Hoffnung nicht auf, etwas zu finden, das Maria helfen konnte.

Zwei Wochen vor der stationären Aufnahme im Kinderspital hielt die Mutter Maria fast unentwegt im Arm, da Maria nun dauernd Anfälle hatte und dabei nur noch weinte und jammerte. In der Nacht schrie sie alle 30 Minuten auf und die Mutter sehnte den Tag des Spitalaufenthaltes herbei.

An einem Montag im März 2008 – Maria war mittlerweile fünf Jahre alt – traten sie ins Spital ein und die Diät konnte beginnen. Zwei Tage später, am Mittwochmorgen sass die Mutter wie jeden Tag bereit, um Maria beim Erwachen vor Verletzungen am Bettgitter zu bewahren. Maria öffnete die Augen, lachte und erlebte den ersten Morgen ohne Anfälle. Der Tag verging und die Anfälle blieben aus. Während der restlichen zwei Wochen im Spital war kein Anzeichen eines Anfalls mehr bemerkbar. Das EEG (Hirnstrommessung) bestätigte, dass Maria keine Auffälligkeiten mehr zeigte. Die ketogene Diät erwies sich als sehr zeitaufwändig und herausfordernd. Im Vergleich zur katastrophalen Situation davor war sie aber ein wahrer Segen.

Die wunderbare Genesung von Maria konnte ihren Lauf nehmen. Maria begann einen Schlafrhythmus aufzubauen. Nach zwei Monaten konnte sie frei stehen und wenige Tage darauf erlebte die Familie die ersten beiden Schritte. Vier Wochen nach Beginn der Diät wurden alle Epilepsiemedikamente für immer abgesetzt. Es begann ein völlig neuer Lebensabschnitt.

Die Pflege und Bedürfnisse von Maria veränderten sich und somit auch unsere Einsätze. Wir lernten von der Mutter den Umgang mit der ketogenen Diät, förderten Maria in allen Bereichen, freuten uns mit ihr über alle Fähigkeiten, die sie neu entwickelte und erlebten Maria als Frohnatur.

Im Alter von sieben Jahren und acht Monaten erhielt sie endlich die lang ersehnte Diagnose. Maria leidet an einem Glucosetransporter-(GLUT 1)-Defekt. Er führt dazu, dass die Glucose nicht ins Gehirn eingebaut werden kann und damit den ganzen Stoffwechsel und die Gehirnfunktion stört. Bei dieser Erkrankung ist die ketogene Diät derzeit die einzige wirksame Therapie. Maria wird die Diät nicht, wie der Junge im Film, eines Tages absetzen können.Aber bis jetzt verträgt der Körper die grossen Fettmengen gut und zeigt bei den regelmässigen Untersuchungen keinerlei Nebenwirkungen.

In den folgenden fünf Jahren sah man keine  Unregelmässigkeiten mehr im EEG. Zum jetzigen Zeitpunkt spricht man von Anfallsbereitschaft, das heisst, dass auf dem EEG zwar Auffälligkeiten entdeckt wurden, diese jedoch klinisch von aussen nicht sichtbar sind. Aufmerksamkeit und Überwachung unsererseits sind gefordert. Maria merkt von alldem jedoch nichts und entwickelt sich täglich weiter.

Mittlerweile wird Maria schon seit über zwölf Jahren von der Kinderspitex Nordwestschweiz in der Pflege begleitet. Derzeit befindet sie sich in der Pubertät, möchte sich ablösen und selbstständig werden. Daher ist es wichtig, ihre Bedürfnisse ins Zentrum zu stellen, ihr Raum zu geben und ihre Ressourcen zu stärken. So ist es nicht immer einfach, einen Einsatz zu gestalten, der fördert, jedoch nicht überfordert, sie mitbestimmen lässt und dabei doch die pflegerischen Massnahmen spielerisch miteinbezieht.

Es gibt auch Situationen, in denen Maria keine Lust auf Förderung hat und lieber zuerst nach draussen gehen möchte oder bei der Menüauswahl mitbestimmen will, um nicht einfach das Vorgesetzte essen zu müssen. Daher ist es wichtig, die Förderziele regelmässig zu evaluieren und anzupassen. Das geschieht in Absprache mit der Mutter und der Schule, damit wir alle am gleichen Strang ziehen und Maria da abholen, wo sie gerade steht.

Vieles konnte Maria erlernen, jedoch ist ihr Entwicklungsstand nicht mit demjenigen von Gleichaltrigen vergleichbar. Deshalb besucht sie das Therapie Schulzentrum in Münchenstein, wo sie neben der schulischen Förderung auch therapeutisch betreut wird. Maria erhält in der Schule Logopädie, Physio- und Ergotherapie. Die Lehrpersonen übernehmen zudem die Überwachung der ketogenen Diät. Dies entlastet die Mutter, die Maria zu vielen zusätzlichen Terminen begleiten muss. Etwas, was bei chronisch kranken Kindern zum Alltag gehört.

Durch ihre Ataxie und die Folgen der nicht medikamentös einstellbaren Epilepsie ist Maria weiterhin auf viel Unterstützung ihrer Mutter,  der grossen Schwester und der Kinderspitex angewiesen. Sie muss beaufsichtigt werden, da noch immer eine Anfallsbereitschaft besteht. Somit ist die Mutter weiterhin gefordert, rund um die Uhr für ihre Tochter da zu sein, in regelmässigen Abständen die Nahrungsmittelmengen in den Kochrezepten, abgestimmt auf das Körpergewicht von Maria, neu zu berechnen, frisch zu kochen, alles aufs Gramm abzuwägen, regelmässig die Blutwerte zu messen und vieles mehr.

Der dichte Alltag lässt kaum Zeit um durchzuatmen. Daher sind die Einsätze durch die Kinderspitex für die Mutter sehr wertvoll und  unverzichtbar. Sie erlauben ihr, die Verantwortung für eine Weile abzugeben, sich Zeit für das Geschwisterkind zu nehmen, Büroarbeiten und alles, was so in einem Haushalt anfällt, zu erledigen und Kraft zu tanken, um weiter zu machen.

Wenn ich bei Maria im Einsatz bin, versuche ich, ihre Förderung mit Spass und Freude zu verbinden. Zum Beispiel kann sie auf einem Spaziergang bei den Autoschildern die Zahlen benennen, auf einer Mauer die Balance trainieren und auf der Kirchenuhr die Zeit ablesen. Somit ist der wichtige Aspekt der körperlichen Bewegung abgedeckt. Dies ist eine tragende Komponente der ketogenen Diät, um den Ablagerungen im Körper entgegenzuwirken und diese möglichst zu vermeiden. Gleichzeitig kann ich während dieser Überwachung einen Teil der Wiederholungen vom Schulstoff integrieren. Maria hilft auch ab und zu mit, ihre Menüs zuzubereiten.

So kann sie ihre feinmotorischen Fähigkeiten schulen und sich mit ihrer Diät auseinandersetzen, welche ein Teil ihres Lebens ist und bleiben wird. Dabei sind ermutigende und lobende Worte essenziell, um die Motivation hoch zu halten und somit Marias Selbständigkeit zu fördern.

Für mich als langjährige Mitarbeiterin ist es eine Freude und eine Genugtuung, über so viele Jahre in der Bezugspflege eine Familie begleiten zu dürfen. Meine vielfältigen Aufgaben bestehen neben der   medizinischen Pflege darin, der Familie beratend zur Seite zu stehen, in stürmischen Zeiten zu  unterstützen, lustige Situationen zu teilen, ein offenes Ohr für Anliegen und Fragen zu haben, zu begleiten und Maria zu fördern. Schön, dass ich Maria weiterhin auf ihrem Weg betreuen darf!

Der grosse Tag ist gekommen! Von weitem sehe ich Maria neben ihrer Mutter im Zirkuszelt sitzen. Auf ihrem Gesicht ist wieder das strahlende Lachen. Ja, genau so hat sie es sich vorgestellt. Es ist ein Tag, von welchem mir insbesondere die glücklichen Kinderaugen, die dankbaren Eltern und das engagierte Kinderspitex-Team immer in Erinnerung bleiben werden.

// Text: Nicole Moser, Pflegefachfrau HF

 

* Was ist die ketogene Diät?
Bei der ketogenen Diät bezieht der Körper seinen Energiebedarf nicht aus den Kohlenhydraten, sondern aus dem Nahrungsfett. Dabei wandelt die Leber das Fett in Ketonkörper um und bildet so eine alternative Energiequelle für das Gehirn. Der ähnliche Effekt geschieht beim Fasten bzw. Hungern (Umbau der Fettreserven).

Wichtig: Diese Diät muss ärztlich überwacht werden, vor jeder Mahlzeit werden die Blutwerte gemessen (5 x täglich), das Verhältnis 4:1 (80% Fette zu 20% Proteine / Kohlenhydrate) muss strengstens eingehalten werden, um die Ketose im Körper aufrechterhalten zu können.