«Fast alles ist möglich, es braucht einfach etwas Mut und Organisation».

Die Anfrage an uns als Kinderspitex war sehr unüblich – ob wir auch Einsätze in La Réunion machen würden. Und dies in Zeiten von Corona. Doch unsere Überlegungen waren schnell vollzogen. Nachdem sämtliche finanzierungs- und versicherungstechnischen Fragen geklärt waren, konnten wir unserem Leitsatz getreu handeln: «Uns leitet die Einzigartigkeit jedes einzelnen Kindes und die Individualität seiner Familie».

Und so leisteten im Herbst 2021 zwei Mitarbeiterinnen der Kinderspitex ihre Einsätze auf La Réunion. Wie es dazu kam, erzählt uns die Familie von Zion. 
Zur Einzigartigkeit gehört unser familienzentrierte Ansatz mit dazu. Dies bedeutet, dass wir nicht nur die bedarfsgerechte, verordnete medizinische Pflege ausführen. In unserem ganzheitlichen Ansatz ist es genauso wichtig, das Familiensystem miteinzubeziehen und für ihre Aufgabe zu befähigen. Denn dieses trägt auch in all den Stunden, in denen die Kinderspitex nicht im Einsatz ist. 

Die Mutter erzählt:
Wir sind die sportliche, aktive Familie von Zion. Dazu gehört der stolze Vater David – Franzose, aufgewachsen auf der tropischen Insel La Réunion im Indischen Ozean und Profisportler. Weiter gehöre ich als Vollblut-Mama sowie Pfeiler der Familie, Organisationstalent und ehemalige Profisportlerin – wie auch die drei Jungs Liam, Kiano und Zion - zur Familie. Liam ist 7 Jahre alt, Kiano 4 und Zion ist als jüngster Sohn vor 15 Monaten mit dem CHARGE-Syndrom zur Welt gekommen.

David und ich haben uns vor 12 Jahren auf dem Triathlon-Weltcup kennengelernt. So verschieden wir im Charakter und von der Mentalität her auch sind, so sehr lieben wir die gemeinsame Zeit mit Abenteuern in der Natur, auf Reisen und mit unseren Kindern. Wir leben und geniessen das Leben in vollen Zügen – in der Schweiz und in unserer zweiten Heimat, auf der Insel La Réunion.

Als wir uns nach den Olympischen Spielen 2012 entschieden haben eine Familie zu gründen, durften wir schon bald unseren ersten Sohn Liam willkommen heissen. Drei Jahre später kam Kiano dazu und im 2020 unser drittes Kind Zion. Ein Kind bringt grosse Veränderungen mit sich, was uns aber nicht in unserem Lebensstil bremste. Bis Zion zur Welt kam lebten wir weiterhin sehr aktiv, waren viel auf Reisen und gefühlt mit 300km/h im Leben unterwegs.

Zion
Und dann kam der Tag, der unseren Familien-Hochgeschwindigkeitszug mit einer Notbremse zum kompletten Stillstand brachte. Meine dritte Schwangerschaft verlief normal, bis auf ein bis zwei Auffälligkeiten, weshalb Zion in der 36. Schwangerschaftswoche, nach Einleitung der Geburt, das Licht der Welt erblickte. Als ich ihn für ein paar Sekunden halten durfte, beschlich mich bereits ein ungutes Gefühl und die Stunden danach verstärkten dies. Mit Atemproblemen wurde Zion umgehend auf die Neonatologie gebracht. Untersuchungen wurden gestartet - es gab Diagnosen und Verdacht auf Syndrome - doch niemand konnte uns sagen, was Zion fehlt. Ich erinnere mich an dieses eine Gespräch, als der Neo-Chefarzt, die lokale Neurologin und ein weltweit renommierter Neuro-Professor vor uns am Tisch sassen und uns schulterzuckend viel Glück für die kommenden Jahre wünschten. Dies mit den Worten, dass sie uns nicht sagen können, ob unser Kind jemals sehen, hören, selbständig essen oder laufen werde.

Ein kurzer Wimpernschlag und unsere Zukunft – mit all unseren Wünschen, Träumen und Plänen – löste sich in einer riesigen Staubwolke in Nichts auf. Warum wir?

Zion kämpfte, wurde von Aarau nach Zürich verlegt und bekam mit acht Wochen eine Tracheotomie und einen Button, da er wegen diversen Fehlbildungen nicht selber essen konnte. Nach weiteren drei Monaten im Kinderspital durften wir ihn nach langen fünf Monaten endlich mit nach Hause nehmen. Zion, unser drittes Wunschkind mit CHARGE-Syndrom als Diagnose, einer Kanüle im Hals und in der Nacht beatmet, vollständig über die Sonde ernährt.

Wir, die so freiheitsliebende Familie, bekamen ein Kind, welches vermutlich über Jahre eine 24h-Betreuung benötigt, auf viel medizinisches Material und Infrastruktur angewiesen ist, täglich Therapien braucht und einfach alles andere als «frei» ist.

Unser «TGV-Zug» stand eine ganze Weile still auf dem Gleis. Mit Hilfe der Kinderspitex und der Zeit fanden wir unseren neuen Rhythmus und begannen wieder zu rollen. Zwar langsam, aber immerhin ging es wieder vorwärts. Die ersten Monate waren sehr unruhig, da wir fast alle zwei Wochen mit der Ambulanz oder dem Helikopter auf dem Notfall in Zürich landeten. Wir waren müde, es kriselte in der Partnerschaft und eigentlich war das so gar nicht das Leben, das wir uns vorgestellt hatten.

La Réunion – vom Traum zur Realität
Was wir brauchten war ein „Tapetenwechsel“. Wir setzten uns als Kriterium für eine erste Auslandreise: Zion vier Monate ohne Besuch auf dem Notfall. Als Zion dies geschafft hatte und es ihm im Verlauf des Frühlings immer besser ging und er sogar von der Beatmung weg kam, fingen wir an, uns Gedanken über eine mögliche Reise nach La Réunion zu machen. Abklärungen mit den Ärzten, Fluggesellschaften und der Kinderspitex begannen. Als wir von allen Seiten grünes Licht bekamen, wurde der Traum zu einem Projekt über mehrere Monate. Viele Mails, Telefonate und organisatorische Stunden später standen wir anfangs Oktober 2021 tatsächlich am Flughafen Basel – bereit für eine zweimonatige Auszeit in unserer zweiten Heimat. Dankbarkeit, Vorfreude, Nervosität und Unsicherheit wechselten sich ab. Die Anwesenheit von Karin – unserer Kinderspitex-Unterstützung für den ersten Monat - brachte viel Sicherheit in diesem Moment. 3 Erwachsene, 3 Kinder, 6 Taschen à 23kg (die Hälfte davon gefüllt mit medizinischem Material, Beatmungsgerät, Sauerstoff-Konzentrator, Monitor, Inhalationsgerät und 2 Absauggeräte) wurden eingecheckt. Und dies alles in Zeiten von Corona, mit 3G und negativem Test und vielem mehr. Die Reise ging über Paris und den Indischen Ozean Richtung La Réunion und verlief entgegen all unseren Erwartungen absolut ohne Probleme. Zion hat auf dem Nachtflug 10 Stunden durchgeschlafen und lediglich ein wenig Sauerstoff benötigt. Erschöpft, aber glücklich, kamen wir auf der Insel an.

Insel-Leben
Die ersten Tage liessen wir es gemütlich angehen am Pool in unserem Garten und dem Strand an der Lagune. Dazu das Vogelgezwitscher, das Sonnenlicht und die sommerlichen Temperaturen und schon fühlten wir uns zu Hause im Paradies. Wir hatten im Vorfeld ein Bungalow – zwei Strassen weiter – für unsere beiden Spitex-Frauen reserviert. So waren sie in der Nähe, hatten jedoch etwas Privatsphäre in ihren Pausen. Während der Hinreise und im ersten Monat hat uns Karin unterstützt, im zweiten Monat und während der Rückreise Daniela. Wir hätten diese Auszeit auch ohne Spitexpflege in Angriff genommen, jedoch wäre es natürlich nie derselbe Aufenthalt geworden. Da sie vor Ort nur für uns zuständig waren, mussten wir keine Planung im Voraus machen, sondern konnten spontan planen. So konnten wir es ohne Nachteinsätze durch die Kinderspitex versuchen und dafür tagsüber von ihrer Unterstützung profitieren. Zion ging es in La Réunion mit der tropischen Meeresluft so gut, dass ich zum Teil die Nächte durchschlafen konnte. Er brauchte wie jedes Kleinkind ein paar Tage, um sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, doch einmal eingelebt, ging es ihm so gut wie noch nie in seinem Leben.

Zurück zur Diagnose der ersten Lebenswoche
Mit vierzehn Monaten sieht Zion vermutlich ganz normal, hört relativ gut und mit Hörgerät sogar komplett. Schlucken geht leider nicht und er muss über die Sonde ernährt werden. Er sitzt schon recht gut selbständig und hat während unserem Urlaub tatsächlich angefangen, an unseren Händen erste Schritte zu gehen. Je mehr Zeit verging, umso mehr Entwicklungsschritte folgten. Und dies ohne regelmässige Therapien mit Spezialisten – einfach nur, weil es ihm gesundheitlich das erste Mal richtig gut ging. Sauerstoff hat er nie gebraucht und abgesaugt wurde noch ca. 10-15x pro Tag – anstelle der 5x pro Stunde in der Schweiz.

Dank der Spitex-Pflege tagsüber konnten wir endlich auftanken. Es verging kein Tag, an dem wir uns nicht sportlich betätigten. Ausserdem hatten wir Zeit für spannende Unternehmungen mit unseren zwei grösseren Jungs oder für Treffen mit Freunden und Familie. Auch uns ging es so gut wie schon lange nicht mehr und wir konnten unsere Batterien wieder komplett auffüllen. Das Highlight der Reise war ein dreitägiger Ausflug mit einem VW-Bus mit wildem Campen – ganz ohne Spitex. Natürlich hatten wir auch da das ganze medizinische Material für Zion mit dabei, aber es fühlte sich doch schon fast an wie «normales Leben».

Fazit
Es war das Beste, was wir machen konnten – für Zion, für unsere zwei anderen Jungs, für uns als Paar und Familie. Natürlich war es hilfreich, dass es Zion gesundheitlich so gut ging und wir kein einziges Mal den Arzt vor Ort konsultieren mussten. Da wir eine solch tolle Spitex-Unterstützung mit dabei hatten fühlte es sich wirklich an wie Urlaub – trotz Homeoffice und Homeschooling. Auch Kinder mit Behinderungen entwickeln sich weiter, auch wenn mal ein paar Wochen die Therapie ausfällt.

Nun sitzen wir wieder in unserem Alltag in der grauen, kalten Schweiz und träumen bereits vom nächsten Ausflug in den Indischen Ozean. Ein Traum kann schneller zur Realität werden als man denkt.

Zum Schluss bedanken wir uns von Herzen bei unseren zwei Spitex-Frauen für die grosse Unterstützung vor Ort und der Kinderspitex Nordwestschweiz.

Unsere Mitarbeiterinnen erzählen:
Letztes Jahr wurden wir an einer Fallbesprechung angefragt, ob wir uns vorstellen könnten, die Familie von Zion nach La Réunion zu begleiten. Da wir beide sehr gerne reisen und andere Kulturen kennenlernen, mussten wir nicht lange überlegen und sagten auf Anhieb zu.

Karin
Nach einigen organisatorischen Abklärungen und auch Corona-bedingten Vorbereitungen ging es anfangs Oktober los. Nach einem sehr langen und intensiven Flug sind wir in der Hitze und im Paradies angekommen. Zion und auch ich waren nach der langen Reise etwas erschöpft und mussten uns noch etwas akklimatisieren. Das unkomplizierte Inselflair und die sehr gastfreundliche Familie trugen dazu bei, dass ich mich nach kurzer Zeit rundum wohl fühlte. Ich habe die Zeit als sehr lehrreich und interessant empfunden und auch für meine Französischkenntnisse war der Aufenthalt auf La Réunion äusserst hilfreich.

Gemeinsame Zeit mit Zion
Da die Familie sehr unternehmenslustig ist, verbrachten wir unsere Tageseinsätze mit Zion in ihrem Haus, was er sehr genoss. Er hat dabei zu unserer grossen Freude beachtliche Fortschritte gemacht – beim Essen, Laufen, Laute bilden usw. Dies mit unserer Unterstützung, ohne jegliche Therapien. Er gewöhnte sich auch immer mehr an die hohen Temperaturen und fühlte sich rundum wohl. Mit dem Sonnenlicht und dem Wasser hatte er zu Beginn des Aufenthaltes noch etwas Mühe. Doch zum Schluss getraute sich Zion mit den Füssen sogar ins Meerwasser.

Daniela
Ich habe Karin nach vier Wochen abgelöst, konnte aber vorher bereits zwei Wochen Ferien mit meinem Mann verbringen. So konnte ich die Insel und den Wohnort der Familie kennenlernen, wofür ich sehr dankbar war. Der unkomplizierte Umgang der Familie hat es für mich sehr einfach gemacht, mich einzuleben und wohlzufühlen. Es war eine sehr freudige und positive Erfahrung. Es hat mir gezeigt, dass so Vieles möglich ist, dank einer guten Organisation, positivem Denken und der Lebensfreude.

 

// Text: Eltern von Zion, Daniela Burkhalter und Karin von Arx, Pflegefachfrauen HF
// Im Bild: Zion mit seiner Familie