Cai – wenn Kinder selbständig werden

Heute ist Cai 16 Jahre alt und soweit selbständig, dass er keine Kinderspitex mehr benötigt. Doch es war ein langer Weg, auf dem wir ihn begleitet haben. Viele Jahre hat die Kinderspitex die Überwachung übernommen, eine Arbeit, die aber weit mehr ist als nur Behandlungspflege. Es entstehen Beziehungen und so gilt es auch für die Mitarbeiterinnen der Kinderspitex, nach beinahe 16 Jahren los zu lassen.

Befähigen bedeutet hier, auch die Jugendlichen in ihre mögliche Selbstständigkeit zu begleiten und zusammen mit den Eltern dafür zu sorgen, dass die Kinder - die wir zum Teil ihr ganzes Leben lang gepflegt haben - ihre eigenen Schritte in ihr Erwachsenwerden gehen können. 

Unsere Mitarbeiterinnen erzählen:

Vor mehr als 15 Jahren: Wir sehen das kleine Menschlein Cai noch vor uns, auf der Intensivstation im Kinderspital Zürich - angeschlossen an vielen Kabeln und Schläuchen, sowie Überwachungs-monitoren, die seine Vitaldaten anzeigen. Werden wir dem gewachsen sein? Ist so eine Intensivpflege zu Hause möglich? Diese Fragen gehen uns durch den Kopf. Und dann ist es soweit – Cai darf - fast halbjährig - endlich nach Hause.

Rund um die Uhr braucht Cai mit dem selten vorkommenden Charge-Syndrom Pflege und Überwachung. Wegen einer Stimmbandlähmung braucht er eine Trachealkanüle. Diese muss häufig abgesaugt werden, da er sehr viel Sekret produziert, das er nicht schlucken kann und somit seine Atmung durch die Kanüle hemmt. Seine Ernährung erhält er über einen Button – eine Sonde im Bauch – langsam mittels Sondomaten. Auch seine Sauerstoffsättigung im Blut sowie sein Puls müssen mit einem Monitor ständig überwacht werden. Die Eltern haben im Kinderspital diese aufwändige Pflege erlernt und sind mittlerweile richtige Experten – wir bewundern sie in all den Jahren, mit welchem Engagement sie für ihren Sohn sorgen und ihn fördern. Damit sie dies alles bewältigen können, werden sie von uns Kinderspitexfrauen unterstützt. Das Wohnzimmer ist zu einem Pflegezimmer geworden. Nachts und tagsüber – 72 Stunden pro Woche – sind wir für Cai da. Später, als es ihm besser geht, sind es weniger Stunden und schliesslich sind wir nur noch zwei Mitarbeiterinnen, die für 7 Stunden im Monat zu ihm gehen.

Wie schnell es lebensbedrohlich werden kann

Traurig bleiben uns die Momente in Erinnerung, in denen er weint, wir aber nichts hören und nichts sehen, ausser Tränen, die über seine Wangen kullern. Seine Stimmbänder und einige seiner Gesichtsmuskeln sind gelähmt und auch wegen der Kanüle kann er keine Töne von sich geben. Ab und zu erleben wir Schreckmomente – wenn Cai’s Sauerstoffgehalt fällt, wenn sein Röcheln nicht aufhören will oder er sich trotz Absaugen und Abhusten blau verfärbt. Noch nicht geübt im Kanülenwechseln, da Cai vor all den vielen Jahren zu den ersten Kindern gehört, die mit einer Kanüle zu Hause sein können, bleibt uns ein Ereignis in Erinnerung. Wir sind zu zweit beim Wechseln der Fixation der Kanüle - die Mutter ist in der Küche nebenan – und da fällt die Kanüle raus. Cai ringt nach Atem und verfärbt sich. Blitzschnell stopfe ich die Kanüle wieder ins Loch zurück und er erholt sich rasch. Danach sagen wir uns beide, wie ruhig wir geblieben sind – innerlich sieht es jedoch anders aus. Und die Mutter lässt uns gewähren und beweist uns so ihr riesengrosses Vertrauen.

Es braucht ein grosses Netz

Überhaupt ist es für die Eltern nicht immer einfach, andauernd «fremde» Personen im Haus ein- und ausgehen lassen zu müssen. Aber wir sind ein gutes Team – Cai, seine Eltern, seine drei Brüder und wir Spitexfrauen. Oft steht Cai, jetzt schon etwas älter, bereits am Fenster und wartet auf uns. Wir winken ihm zu und er freut sich sichtlich.

Fachfrauen der Physio, Ergo und Logo kommen zu Cai nach Hause und wir lernen Vieles, um den Jungen zu fördern. Und wir alle freuen uns an seinen Fortschritten. Besonders spannend ist das gemeinsame Erlernen der Gebärdensprache, die es ihm ermöglicht sich mitzuteilen. Wir dürfen ihn dann auch in die Spielgruppe begleiten, in der die Leiterin die Gebärden aufnimmt und einbaut. Alle Kinder lernen viele tolle Lieder zusammen mit Gebärden und Cai ist einer von ihnen.

Später begleiten wir ihn mit dem Bus zur Physio- und Logotherapie - immer mit dabei das Überwachungsgerät mit Sensor, der Sauerstoff und vor allem das Absaugegerät. Einige Male im Winter kommen wir arg ins Schwitzen. Eingemummelt in Winterkleider hustet und würgt Cai an seinem Sekret und muss abgesaugt werden. Unterwegs zu sein mit Cai ist oft eine Herausforderung, denn er ist nicht immer einschätzbar – im Bus stellt er einem Herrn in Schale und mit einem Aktenkoffer aus dem Nichts blitzschnell ein Bein, so dass sich dieser auf dem Bauch liegend wiederfindet. Oder zu Hause benutzt er Küchenmesser und Scheren plötzlich wie ein Samurai-Schwert.

Rituale sind wichtig - auch in der Überwachung

Cai wünscht sich auch mit 15 Jahren noch immer, dass wir mit ihm vor dem Schlafen «ich ghöre es Glöggli» singen, was die Mutter überrascht, da dies bei ihnen nicht üblich ist. Auch das Spiel «Eile mit Weile» - ein Geburtstagsgeschenk der Kinderspitexfrauen – spielt er fast ausschliesslich mit uns.

In den letzten Jahren ist Cai zunehmend ruhiger geworden, umgänglicher und berechenbarer – und grösser. Auch sprachlich macht er Fortschritte, immer noch unterstützt mit Gebärden. Wir, die ihn gut kennen, verstehen ihn meistens gut. Wenn nicht, kann er auch an uns verzweifeln oder er nimmt uns an der Hand und zeigt es.

Ein grosses Glück ist, dass sich seine Stimmbandlähmung erholt und er die Kanüle nicht mehr braucht. Dank der unermüdlichen Förderung der Mutter und der Logotherapeutin, auch in der Essgruppe, lernt Cai essen. Sogar einen am Stock über dem Feuer gebratenen Cervelat geniesst er mit uns, auch wenn die Wurst püriert ist. Heute kann Cai sogar ein Glas Wasser oder noch lieber Sirup trinken, ohne dass er sich verschluckt. Besonders gerne schlecht er Vanille-Eis.

Und jetzt wird Cai 16 Jahre alt und braucht und nicht mehr. Die noch notwendige Flüssigkeit sondiert er sich selber. Im Technorama in Winterthur erleben wir zu dritt einen wunderschönen Abschiedstag, der uns immer in Erinnerung bleiben wird. Mit Wehmut lassen wir ihn ziehen und wünschen ihm nur das Allerbeste.

 

// Text: Vreni Studer und Claudia Bärtschi, Pflegefachfrauen HF

// Im Bild: Cai mit Pflegefachfrauen Vreni Studer und Claudia Bärtschi